Kannst Du Dir vorstellen, wenig bis nichts zu empfinden? Nein? Das ist auch nicht gerade leicht. Tatsächlich ergeht es manchen Menschen aber so. Menschen mit Alexithymie. Nervöse Magenbeschwerden vor einer Prüfung? Bauchkribbeln bei Verliebtheit? Fehlanzeige! Nur fortwährende emotionale Eintönigkeit. Hier erfährst Du, was genau Alexithymie ist, welche Symptome sie mit sich bringt und was die Ursachen sind. Außerdem: Wie kann eine Behandlung aussehen?
Die Bezeichnung Alexithymie stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet „keine Worte für Gefühle“. Sie steht für die Schwierigkeit mancher Menschen, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und für sich zu deuten. Dabei scheint bislang unklar, ob betroffene Menschen tatsächlich weniger spüren („Gefühlskälte“) oder sie nur ein Problem damit haben, die vorhandenen Gefühle richtig einzuordnen und dann durch eine körperliche Reaktion auszudrücken („Gefühlsblindheit“). Es handelt sich bei Alexithymie nicht um eine psychische Erkrankung, sondern wird in der Fachwelt lediglich als Persönlichkeitsmerkmal betrachtet. Männer und Frauen sind in etwa gleich häufig von der Alexithymie betroffen.
Im Zusammenhang mit der Alexithymie spricht man auch von „Gefühlsblindheit“. Das beschreibt das Phänomen eigentlich ganz gut. Schließlich ist ein Betroffener mit diesem Persönlichkeitsmerkmal von seinen Emotionen ebenso abgeschnitten wie ein blinder Mensch von seiner Sehfähigkeit. In dem Fall geht man davon aus, dass Betroffene ihre Gefühle zwar wahrnehmen, aber falsch interpretieren. Das nervöse Magenkribbeln vor einer Prüfung wird etwa als rein körperliches Symptom gedeutet und in keinerlei Beziehung zur Emotion Angst gesetzt.
Es gibt aber auch den sogenannten „Robotertyp“. In dem Fall spüren Betroffene tatsächlich wenig oder nichts. Es regt sich nichts in ihrem Inneren. Sie erleben etwas Wunderbares, sehen etwas Schönes, erleben eine Ungerechtigkeit und es regt sich – nichts. Sie haben keine Ahnung davon, was Freude, Wut oder Trauer sind. In dem Fall kann man tatsächlich von gefühlskalten Menschen sprechen. Die Forschung hierzu steckt aber noch in den Kinderschuhen.
Alexithymie lässt sich an folgenden Symptomen erkennen. Betroffene:
Doch wie kommt es dazu, dass manche Menschen keinen Draht zu ihren eigenen Emotionen haben? Geschweige denn zu denen anderer Menschen? Forscher und Forscherinnen vermuten zum einen genetische Faktoren als Ursache. Doch in vielen Fällen sind gefühlsblinde Menschen nicht von Geburt an gefühlsblind. Sie werden es erst mit der Zeit, infolge ungünstiger Einflüsse in ihrem Leben.
In vielen Fällen haben Betroffene in der Kindheit schlimme Erfahrungen gemacht. Viele erlebten Gewalt, sexuellen Missbrauch oder Vernachlässigung. Andere erlitten ein Trauma im Erwachsenenalter und bildeten daraufhin eine Alexithymie aus. Dass traumatische Erfahrungen eine Ursache für Gefühlsblindheit sind, ergibt durchaus Sinn. Denn ist man einer Situation ausgesetzt, in der man qualvolle Schmerzen und unendliche Angst erlebt, bietet das Ausschalten von Gefühlen einen effektiven Schutzmechanismus. Denn allein durch die Entkopplung von den eigenen Emotionen können viele Betroffene das nahezu Unaushaltbare aushalten. Indem sie verlernen zu fühlen, schützen sie ihre Psyche.
Häufig wurden alexithyme Menschen als Baby oder Kind auch vernachlässigt. Vernachlässigung hat meist schlimme Folgen für ein Kind. Denn gehen die Eltern nicht auf die grundlegenden Bedürfnisse ihres Kindes ein, wird es ihm erschwert, seine Gefühle wahrzunehmen. Es stumpft mit der Zeit ab, weil es von seinen Eltern sowieso keine Rückmeldung zu erwarten hat. Es kann keinen gesunden Zugang zu seinen Emotionen entwickeln und spürt bei Angst, Freude oder Wut maximal die körperlichen Symptome, die diese Emotionen mit sich bringen.
Alexithymie wird oft nur zufällig diagnostiziert. Da Gefühlsblindheit sehr oft mit psychischen Erkrankungen wie Angststörungen, einer Depression oder Essstörungen einhergeht, kommen Betroffene zunächst mit diesen Problemen in die Psychotherapie. Erst dann stellt der Therapeut oder die Therapeutin häufig die Diagnose Alexithymie. Zur Diagnose werden Fragebögen wie der TAS-20 (Toronto-Alexithymie-Skala) hinzugezogen. Erreicht der Betroffene hier einen TAS-20-Wert von mindestens 61, handelt es sich bereits um eine ausgeprägte Alexithymie.
Eine Psychotherapie kann Betroffenen dabei helfen, die Verbindung zu ihren Gefühlen wieder herzustellen. Darin lernen sie, wie sie ihre Emotionen bewusst wahrnehmen können. Sie lernen auch, ihre Gefühle zu beschreiben, indem sie zu bestimmten Emotionen wie Wut oder Freude angeregt werden. Besonders die Gruppentherapie scheint hier erfolgsversprechend zu sein. Oft kommen Kunst- oder Körpertherapien zum Einsatz. Können Betroffene ihre Emotionen besser lesen, dann hat das oft auch positiven Einfluss auf ihre psychosomatischen oder psychischen Begleiterkrankungen. Denn dann verstehen sie vielleicht, warum ihr Körper und ihre Psyche leiden. Sie verstehen dann besser, was der Grund für ihre Trauer, Wut oder Hoffnungslosigkeit ist. Dann ist es möglich, daran aktiv etwas zu verändern, sodass Besserungen eintreten.
Alexithymie ist gar nicht so selten. Zehn Prozent der Menschen sollen hierzulande von dem Phänomen betroffen sein. Andere Quellen gehen sogar von einem Anteil von zehn bis vierzehn Prozent aus.
Gefühlsblinde Menschen entwickeln in ihrem Leben oft einen hohen Leidensdruck. Denn das Persönlichkeitsmerkmal zieht eine Reihe unangenehmer Folgen nach sich. So kann etwa ihre geringe Empathiefähigkeit zu großen Problemen in der Paarbeziehung sowie anderen Beziehungen führen. Wer Gefühle nicht entschlüsseln kann, der ist nicht in der Lage, emotional auf einen anderen Menschen einzugehen. Das ist aber die Basis zwischenmenschlicher Beziehungen. Weil sich Betroffene selbst nur schlecht spüren, können sie zum Beispiel bei körperlichen Anzeichen von Überforderung nicht adäquat reagieren. Sie wissen zum Beispiel nicht, dass ihre Magenschmerzen von zu viel Stress herrühren und können diesen dann nicht entsprechend abmildern.
Alexithyme bekommen aber sehr wohl mit, dass sie ausgegrenzt werden und können dadurch Ängste oder eine Depression entwickeln. Sie leben beständig in Angst, durch eine falsche Verhaltensweise aufzufallen und abgewertet zu werden. Oft führt ihre Problematik sie daher in einen chronischen Stresszustand, der wiederum psychosomatische Beschwerden oder psychische Erkrankungen fördert. Alexithyme sind daher anfälliger für Depressionen, Suchterkrankungen, Essstörungen, die Borderline-Persönlichkeitsstörung oder Angststörungen als andere Menschen. Aber auch psychosomatische Herzprobleme oder Magenbeschwerden kommen bei ihnen häufig vor. Da ihnen der Zugang zu ihren Gefühlen fehlt, können sie nicht entsprechend ihrer Gefühle handeln. Dies ist aber für eine stabile Gesundheit auf Dauer wichtig.
Wenn Du den folgenden fünf Aussagen zustimmen kannst, könnte das ein Hinweis auf eine Alexithymie sein. Dann ist es ratsam, Dich an einen Psychotherapeuten zu wenden.
Alexithymie und Autismus weisen ähnliche Merkmale auf, sind aber zwei verschiedene Phänomene. Autismus ist eine Entwicklungsstörung mit Krankheitswert. Alexithymie ist lediglich ein Persönlichkeitsmerkmal und hat keinen Krankheitswert. Man kann sagen, dass viele Autisten alexithym sind, denn ihnen fehlt der Zugang zu ihren Gefühlen. Sie können die Emotionen von anderen Menschen nicht nachvollziehen, Mimiken nicht lesen. Bei Autisten kommen aber noch weitere Besonderheiten dazu. Beispielsweise zeigen sie oft ein großes Interesse für ein besonderes Spezialgebiet und müssen bestimmte Verhaltensweisen immer wieder auf die gleiche Weise wiederholen. Oft sind Autisten auch stark von Routinen abhängig. So müssen alltägliche Aufgaben aus einem inneren Drang heraus stets auf die gleiche Weise und am besten auch immer zur gleichen Uhrzeit durchgeführt werden.
Der schlechte Zugang zu ihren Gefühlen macht alexithymen Menschen auch in der Sexualität zu schaffen. Denn dies intime Begegnung läuft praktisch vollständig über die Gefühlsebene ab. Man muss erspüren, ob das, was man tut, der anderen Person gefällt. Einfühlungsvermögen und liebevolles Handeln sind hier gefragt. Ebenso kommt es hierbei auch darauf an, die eigenen körperlichen Empfindungen wahrzunehmen und zu genießen. All das ist für alexithyme Menschen eine große Hürde, weshalb sie Sex meist auch nichts abgewinnen können. So gestaltet sich eine Beziehung zu einem alexithymen Menschen oftmals als sehr schwierig.
Alexithymie ist relativ verbreitet. Daher ist es gar nicht so unwahrscheinlich, dass Du eine alexithyme Person kennst. Vielleicht fragst Du Dich, wie Du am besten mit diesem Menschen kommunizierst? Vielleicht sind Dir einige Probleme auch schon negativ aufgefallen. Vielleicht können Dir unsere Tipps weiterhelfen: